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Meine Mutter hat aufgegeben – und ich musste zusehen

  • Autorenbild: Simone Kunze
    Simone Kunze
  • 4. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit

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In meinem Beitrag „Warum ich immer wieder an Narzissten geraten bin“ habe ich bereits über meine Mutter gesprochen. Heute möchte ich ihre Geschichte ein Stück weiter erzählen – so, wie ich sie erlebt habe.


Während der Ehe mit meinem Vater kam sie nie wirklich zur Ruhe. Sie fuhr nie weg, kümmerte sich kaum um sich selbst. Ihre sozialen Kontakte waren stark eingeschränkt – typisch für eine narzisstische Beziehung. Denn hätte sie sich jemandem geöffnet, hätte sie zugeben müssen, wie schlecht es ihr wirklich ging.


Meine Mutter war ein liebevoller Mensch. Eine stille, aufopfernde Seele, die wahrscheinlich viel Scham in sich trug.

Soweit ich mich erinnern kann, hat sie nie offen darüber gesprochen, was bei uns zu Hause eigentlich los war. Natürlich haben andere es bemerkt und angesprochen, aber meine Mutter war – in meinen Augen – wie gelähmt. Sie konnte nicht handeln. Sie war so aufgewachsen: Man trennt sich nicht, man erträgt. Man funktioniert.


Sie war sehr konservativ, und in meiner Pubertät sind wir oft aneinandergeraten. Ich war rebellisch, neugierig, laut – sie dagegen schüchtern, zurückhaltend, voller Ängste. Sexualität war ein absolutes Tabuthema. Als ich meine erste Periode bekam, war es ihr peinlich. Ich durfte keine Tampons benutzen und nicht baden. Auf meine Fragen bekam ich keine klaren Antworten. Ich wurde nie richtig aufgeklärt, was das Frauwerden betrifft.


Als ich meine ersten Erfahrungen mit Jungs machte, war sie überfordert – und enttäuscht. Unsere Beziehung war angespannt und voller Missverständnisse. Ich konnte ihr nicht die Liebe geben, die sie sich von mir wünschte. Heute tut mir das unendlich leid.


Erst als ich erwachsen wurde, konnten wir uns langsam annähern.


Nach dem Zusammenbruch des Geschäfts meines Vaters wollte er sich das Leben nehmen. Er war verschwunden – und kam dann doch zurück. Manchmal frage ich mich, was gewesen wäre, wenn er es getan hätte. Wäre meine Mutter dann noch am Leben?


Sie fing an, Putzstellen anzunehmen, um die Familie über Wasser zu halten. Mit der Zeit wurde sie immer schwächer. An ihrer Brust hatte sie ein offenes Geschwür, um das sie sich nicht kümmerte. Sie wurde dünner, ihre Stimme leiser.


Viel zu spät ging sie zum Arzt. Die Diagnose: Krebs. Ein knappes Jahr später war sie tot.

Für mich war es ein schleichender Tod. Fast so, als hätte sie ihn gewählt – weil alles zu viel wurde.


Ich bin heute noch wütend und unendlich traurig. Weil sie sich nicht gewehrt hat. Weil sie keinen anderen Ausweg gesehen hat, als ihre Krankheit zu ertragen – bis zum Ende.

Selbst als sie schwach und hilflos zu Hause lag, hörte mein Vater nicht auf. Er bestimmte, was sie essen durfte. Er hielt stundenlange Vorträge über Ernährung bei Krebs. Sie durfte nicht einmal mehr sagen, worauf sie Lust hatte – es endete jedes Mal in einem Monolog darüber, was „gut“ oder „schlecht“ für sie sei.


Nicht einmal meine Schwangerschaft – mit ihrem geliebten Enkelkind, das sie nie kennenlernen durfte – konnte ihr neuen Lebensmut schenken.


Sie wäre eine wundervolle Oma gewesen.

Ich schreibe diesen Text – und ich weine.

Weil ich sie nicht beschützen konnte.

Weil ich jeden Tag an sie denke.

Ich vermisse sie.


An alle, die Ähnliches erlebt haben:


Wenn du das liest und dich in manchen Zeilen wiedererkennst – bitte glaube mir:

Du bist nicht allein.


Vielleicht hast auch du eine Mutter oder einen Vater, der dich nicht schützen konnte. Oder du fühlst dich selbst manchmal gelähmt, überfordert, ausgeliefert. Vielleicht kämpfst du mit Schuldgefühlen, weil du wütend bist – oder weil du jemanden nicht retten konntest.


Aber du darfst fühlen, was du fühlst.

Du darfst traurig sein.

Du darfst wütend sein.

Du darfst dich abgrenzen

Du darfst heilen.


Du musst das Leid der vorherigen Generationen nicht weitertragen. Du darfst deinen eigenen Weg gehen – auch wenn er schmerzhaft beginnt.


Du darfst leben.

Frei. Selbstbestimmt.

In deiner Wahrheit.

Für dich – und für all die, die es nicht konnten.

 
 
 

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